Wissen über das unsichtbare Phänomen «Transithandel» vermitteln und reflektieren. Einblicke aus einer Online-Diskussion mit Lea Haller aus der Perspektive einer Studentin

Von Laura Lämmli
Redaktion: Rachel Huber, Zoé Kergomard

Dieser Blogbeitrag ist keine weitere Rezension von Lea Hallers Buch Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus (Berlin: Suhrkamp 2019), obschon es die erste einer Historikerin wäre. Das Buch gab bereits Anlass für eine rege wissenschaftliche Diskussion, die auch die Aktualität des Themas für eine globale wie schweizerische Geschichte des Kapitalismus beweist – trotz seines technischen Charakters.[1] Stattdessen möchte ich Einblicke in eine neuere Form der Wissensvermittlung, nämlich derjenigen über digitale Diskussionsplattformen, in Zeiten einer Pandemie gewähren.

In diesem denkwürdigen Jahr haben sowohl Studierende als auch Lehrende genügend Frustrationen erlebt. Das Studieren und Lehren im digitalen Modus war sicherlich kein Spaziergang, wie ein vorheriger Beitrag auf diesem Blog thematisierte. Dennoch liessen wir uns immer wieder mit schönen Momenten des wissenschaftlichen Austausches überraschen, wie im Webinar «Die Schweiz: eine Drehscheibe im globalen Rohstoffhandel» am 26. Mai organisiert durch die Stiftung zur Förderung der Schweizerischen Wirtschaftsarchivs. Mit Lea Haller als Expertin im Gespräch mit Alexis Schwarzenbach haben wir Interessent*innen ihren Gedankengängen und Überlegungen folgen können, als sie sich fragte, wie die Geschichte des Transithandels geschrieben werden könnte.

Transithandel, wie bitte?

Worum geht es zunächst beim Transithandel? Heute werden schätzungsweise circa 20-25 Prozent der global gehandelten Rohstoffe (Palmöl, Gold, Kupfer, Kaffee…) über die Schweiz abgewickelt. Dieser Handel machte 2018 4.8 Prozent vom Bruttoinlandprodukt aus und beschäftigte rund 35’000 Personen in der Schweiz. Die gehandelten Güter berühren jedoch nie Schweizer Boden, sondern landen direkt in den Abnehmerländern. Dieses im Vergleich mit dem Aussenhandel lang wenig bekanntes Phänomen[2] nennt sich Transithandel. Dabei betont Haller, dass es sich um einen Quellenbegriff handelt: Schweizer Firmen, die etwa mit Baumwolle, Kakao oder (Roh-)Seide handelten, nannten sich selbst Transit- und Welthandelsfirmen. Unter diesem Namen gründeten sie 1934 auch den Verband Schweizerischer Transit- und Welthandelsfirmen[3], mit dem Ziel, ihre Interessen zu verteidigen und die Vorteile des Standorts Schweiz zu sichern – trotz Binnenlage und der Absenz eines Hafens.

So ähnlich es klingt, kann Transithandel nämlich nicht mit Transitverkehr gleichgesetzt werden. Die Güter erreichen nie das Land, in dem die Handelsfirma ihren Hauptsitz hat. Die Waren werden in einem anderen Land eingekauft und direkt wieder in ein weiteres Land abgetreten. Das Einzige, was ins Land des Hauptsitzes der Firma und durch die Firma selbst fliesst, sind Kapitalströme. Aus der Sicht des Drittstaates – also dort, wo die Firma ihren Hauptsitz hat – handelt es sich um einen Dienstleistungsexport: Firmen bringen Dienstleistungen ans Ausland und werden dafür bezahlt.

Methodologische Reflexion: Welche Perspektiven auf den Transithandel annehmen?

Aus welcher/n Perspektive/n lässt sich ein solches Thema erforschen? Für die Teilnehmenden des Webinars war besonders lehrreich, wie Lea Haller verschiedene Optionen im Webinar diskutierte und reflektierte. Sie begann mit dem Weg über verschiedene Biografien. Historiker*innen können den Fährten folgen, die Menschen auf ihren Lebenswegen hinterlassen: Menschen mit u.a. ökonomischem Kapital verlassen die Heimat und bauen ihr Leben in der Fremde auf – oder versuchen es zumindest. So kann beispielsweise ein soziales und lokales Netzwerk entstehen.

Ferner wog Haller auch verschiedene historiographische Optionen aus. Eine etwa «liberale» Herangehensweise wäre, die Geschichte des Transithandels als Geschichte eines globalen Unternehmertums zu erzählen. Aus einer postkolonialen Perspektive liesse sich der Transithandel andersrum mit Blick auf die wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Hegemonie im Kontext des europäischen Imperialismus untersuchen. Aber, so Haller, durch diese verschiedenen Linsen hat man den Handel zwar im Blick – den Transithandel jedoch nicht. Genau genommen haben diese liberalen oder postkolonialen Perspektiven noch nichts mit der Schweiz zu tun oder genauer gesagt mit der Frage, weshalb gerade die Schweiz als kleines Binnenland zu so einem grossen Player in diesem Geschäft wurde.

Statt die Perspektive der Akteur*innen anzunehmen fragt sich Haller, ob sie alternativ den Waren folgen könnte. Sie verortet diese Option in einer Forschungstradition, die in den 1980er Jahren aufgekommen ist: die Commodity Chain Approach. Bei diesem Ansatz folgt man den Warenströmen auf ihrem Weg durch die Welt. Die Commodity Chains Approach ist ein sequenzielles Model, bei dem Gewinne in der Wertschöpfungskette von der Peripherie in die hochindustrialisierten Zentren verschoben werden.

Aber auch mit diesem Zugang über die Waren komme der Transithandel nicht in den Blick, erklärte uns Haller. Das Ziel ihres Buches, sei es, das Phänomen des Transits im Transithandel zu verstehen. Sie wollte verstehen wie Geld, das Kapital, transitiert, ergo fokussierte Haller schliesslich auf Kapitalströme, die nur schwer abbildbar sind. Mit dieser Perspektive stehen andere Akteure im Fokus, als man vielleicht meinen könnte. Es sind dabei nicht unbedingt Einkäufer, Verkäufer und Händler vor Ort, die primär interessieren, sondern Diplomaten, Financiers und Wirtschaftsanwälte (überwiegend Männer). Diejenigen Akteure, die den Firmen halfen, schlaue Strukturen aufzubauen, um flüssiges Kapital zu schaffen. In dieser Logik bedeutete das, konvertierbares Kapital von Fremdwährung in sichere Währungen zu gewährleisten und dieses Kapital dann schlussendlich auch vor dem Fiskus zu schützen.

Haller stellte somit ihre These auf, dass die Schwierigkeiten und gleichzeitig auch die Vorteile des Handels über einen Drittstaat – mit einer stabilen und frei konvertierbaren Währung – im transnationalen Zahlungsverkehr und in den Kapitalströmen zu suchen seien. Darin liege der Hauptgrund, weshalb die Schweiz zur grossen Transit- und Rohstoffhandelsnation geworden sei. Ein Wendepunkt in dieser Entwicklung sei die Ankunft von ausländischen Firmen ab 1956 in der Schweiz, wie beispielsweise die amerikanischen Handelsfirma Philipp Brothers,die in diesem Jahr im steuergünstigen Kanton Zug eine Filiale eröffnete und somit von den bereits seit dem 19. Jahrhundert entstandenen günstigen Bedingungen für den Rohstoffhandel profitieren konnte.

Eine unsichtbare Geschichte?

Sicherlich braucht es ein gewisses Abstraktionsvermögen, solche Kapitalflüsse zu verstehen. Es geht um eine unsichtbare Geschichte, die nicht über fotografische Quellen dargestellt werden kann. Im Webinar gelang es Haller aber, uns den Transithandel fassbarer zu machen, indem sie zu verschiedenen Medien griff: Von Zeichnungen Mitte des 19. Jh. mit Schweizer Kaufleuten in Japan oder dem Baumwollmarkt in Bombay über Fotografien von Handelsbüros im heutigen Pakistan um die Jahrhundertwende bis hin zu einem Ausschnitt aus der Schweizer Filmwochenschau der 1950er Jahre über die Schweizer Faszination für japanische Perlen.

Der Eindruck der Unsichtbarkeit selbst lässt sich jedoch historisieren. Als Zuschauerin des Webinars fragte ich, weshalb die Schweizer Rohstoffhandelspioniere und ihre Rohstoffhandelsunternehmen trotz des eingangs erwähnten Verbands und Lobbying in den 1930er Jahren weiterhin «unsichtbar» blieben? Laut Haller habe dies zunächst mit dem Selbstbild der Schweiz zu tun: Die Schweiz betrachtete sich selbst lange als «Bauernnation», erst später auch als grosse Exportnation. Zudem sei der Handel vor Ort in den Transithandelsfirmen und im Transithandelsland schlichtweg unsichtbar gewesen. Viel mehr als ein Büro, eine Adresskartei und ein Telex-Gerät brauchte es am Hauptstandort nicht. Beim Transithandel gab es keine dampfenden Fabriken und schuftenden Arbeiter*innen, die hin und wieder effektvoll und medial sichtbar streikten. Das eigentliche Geschäft des Transithandels war de facto unsichtbar und wurde öffentlich wenig wahrgenommen oder diskutiert.

Statistische Praktiken sorgten ferner für die Unsichtbarkeit des Transithandels: Die Schweiz hatte für geraume Zeit keine Zahlungsbilanz. Lange konnte man nicht berechnen, wie viel Geld aus dem Land rausging und reinkam – u.a. aufgrund der Weigerung der Banken, Daten zu liefern. 1902 gab es mit dem Basler Nationalökonom Traugott Geering früh Bemühungen, mittels Schätzungen eine solche Zahlungsbilanz zu erstellen. Geering versuchte nachzuvollziehen, woher das Geld kam, da die Leistungsbilanz beim Abschluss immer ausgeglichen war – und zwar ohne, dass man Schulden machen musste. Geld war also vorhanden, unklar war nur, woher es kam, erläuterte Haller. Diese Schieflage erklärten sich die Eidgenoss*innen mit Tourismus, mit Patentrechten oder etwa dem Verkauf von Strom etc. Dass zum Dienstleistungsexport eben auch der Transithandel gehörte, war noch kein Thema.

Zahlen wurden erstmals im Zuge der 1930er Jahre während der Krise des transnationalen Zahlungsverkehrs erhoben, auf «interner» Initiative: der junge Verband Schweizerischer Transit- und Welthandelsfirmen beauftragte den Basler Nationalökonom Fritz Mangold systematisch mit Hilfe eines Fragebogens die Erträge der Transithandelsfirmen zu erfassen. Er erhielt also einen einmaligen Einblick in die ihm von den Firmen ausgehändigten Unterlagen, die er danach aber vernichten musste. Für das Jahr 1929, mitten in der Krise, berechnet Mangold Erträge von ca. 40 Millionen Franken und einen Bruttoumsatz von 984 Millionen Franken. Laut den Verbandsmitgliedern sollen diese Zahlen vor dem Börsencrash deutlich höher gewesen sein.[4] Dass es sich auch bei heutigen Zahlen noch immer nur um Schätzungen handelt, sagt gleichermassen viel über das Business aus. Gerade deswegen fordert Haller, den Blick vermehrt auf die Geld- und Finanzströme und deren lange Geschichte zu richten.

Wissensvermittlung trotz Zoom-Fatigue?

Somit offenbarte sich das Webinar als geeignetes Gefäss, ein äusserst komplexes Thema zu verstehen, indem die Forscherin Einblick in ihr Schaffen und somit in die Entstehung eines wichtigen Buches über die Schweizer Wirtschaft gewährte. Mit Rückbezug auf verschiedene visuelle Quellenformen hat Lea Haller diesen zunächst abstrakten Forschungsgegenstand verständlich gemacht, obwohl in ihrem Buch selbst keine Bilder abgebildet sind. Das Webinar war ein gutes Format dafür, sah doch jede*r die Quellen auf dem eigenen Bildschirm und verstand beim Filmmaterial gut, was gesagt wurde. Diskussionsanregend war die Möglichkeit im Zoom-Kosmos kritische Fragen zu stellen, die glücklicherweise engagiert genutzt wurde. Trotz allen Herausforderungen des Covid- und gleichwohl Zoom-Zeitalters lernen wir auch Vorteile der wissenschaftlichen Arbeit 2.0 – auch für das digitale Vermitteln von wissenschaftlichen Inhalten – zu schätzen.


[1] Siehe Osterhammel, Jürgen: Transithandel: Lea Haller zeigt Kaufleute als globale Akteure, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.06.2019; Dejung, Christof: Rezension von Lea Haller, Transithandel, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Nr. 3, 2020, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 70 (3), 2020, S. 482–484; Zangger, Andreas: Lea Haller: Transithandel Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus, in: Traverse : Zeitschrift für Geschichte = Revue d’histoire (1), 2020, S. 173; Plumpe, Werner: Lea Haller: Transithandel. Geld-und Warenströme im globalen Kapitalismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte 108 (1), 2021, S. 133–134, sowie Lea Hallers Replik auf Christoph Dejungs Rezension, Haller, Lea: Replik, 03.2021.
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[2] Zur Historiographie beider Phänomene siehe Lea Haller, Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus, Suhrkamp 2019, S. 26 bis 40.
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[3] Haller widmet diesem Verband und den organisatorischen Bemühungen der Transithändler ihr siebtes Kapitel, S. 225-276.
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[4] Vgl. Haller, 20f.
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