Bestandsaufnahme 1971-2021, Teil 2: Frauen und Geschlecht in der Geschichte der Schweiz

Arbeitsgruppe Frauenstimmrechtsjubiläum (Claire Louise Blaser, Zoé Kergomard & Tamara Terry Widmer)

Der zweite Teil der Bestandsaufnahme beschäftigt sich mit dem Status von frauen- und geschlechtergeschichtlichen Themen in Wissenschaft und Vermittlung. Die letzten fünfzig Jahre brachten wichtige Veränderungen, trotzdem werden sowohl Frauen- als auch Geschlechtergeschichte nicht als selbstverständliche Bestandteile der «allgemeinen» Geschichte verstanden.

Dies ist der zweite Teil unserer Serie zur Umfrage und den Diskussionsrunden, die wir anlässlich des Frauenstimmrechtsjubiläums zwischen Dezember 2021 und Januar 2022 organisiert haben. Es ging uns darum zu erfahren, wie Frauen sowohl in der Historiker*innen-Gemeinschaft als auch in der Schweizerischen Geschichtsschreibung positioniert und repräsentiert sind.

Wir haben insgesamt 52 Antworten von Historiker*innen mit verschiedensten Hintergründen erhalten. Diese reichten von Bachelorstudent*innen bis hin zu Habilitierenden, von Historiker*innen im Archivbereich, aus Museen oder aus dem akademischen Berufsfeld. Diese Auswahl an Meinungen repräsentiert zwar nicht die historische Berufsgemeinschaft in der Schweiz,  bietet aber dennoch eine breite Palette an unterschiedlichen Erfahrungen, basierend auf welchen wir uns eine erste «Bestandsaufnahme» des Jubiläumsjahres 2021 erlauben.

Die Antworten wurden alle anonymisiert. Unter jeder Antwort finden sich relevante biografische Informationen zur Einordnung der beschriebenen Erfahrungen (w: Frau, m: Mann, x: nicht-binäre Person).

Sichtbarkeit von Frauen, Frauenthemen und Geschlechterfragen in der Schweizer Geschichte

 

Sind weibliche historische Akteurinnen[1] und Geschlechterfragen genügend sichtbar in der Geschichte der Schweiz? Fast zwei Drittel der Teilnehmer*innen an der Umfrage des Historikerinnennetzwerks Schweiz finden, dass sie ungenügend oder überhaupt nicht sichtbar sind (siehe Grafik 1). Und dies, obwohl viele anmerken, dass sich in den vergangenen Jahrzenten viel getan hat. Frauen- und Geschlechtergeschichte sind in der Schweiz etablierter denn je, und sie sind auch beim Nachwuchs beliebt: In der Umfrage wie auch in einer unserer Diskussionsrunden machten eine Gymnasiallehrperson und eine Akademikerin die Beobachtung, dass immer mehr Maturand*innen an Schweizer Gymnasien in ihren Abschlussarbeiten frauen- oder geschlechtergeschichtliche Fragen behandeln. Im Gegensatz dazu mussten Historiker*innen in den 1980er-Jahren dafür kämpfen, mit Lizenziatsarbeiten oder Dissertationen zu diesen Themen ernst genommen zu werden, wie Initiatorinnen der Historikerinnentagungen 2002 in einem Interview erzählten.

Grafik 1. Sichtbarkeit von Frauen und Geschlechterfragen in der Geschichtsschreibung und -vermittlung in der Schweiz. Antworten zu unserer Umfrage in Prozent von gesamthaft 52 Umfrageteilnehmenden (mehrere Antworten möglich).

Wichtige Projekte der Frauen- und Geschlechtergeschichte werden in der Schweiz mehrheitlich von ehrenamtlichem Engagement getragen, weshalb sie fragil bleiben. Es ist zum Beispiel zu einem grossen Teil privaten und ehrenamtlichen Initiativen wie Frauenarchiven, Frauenstandtrundgängen oder Strassenumbenennungen  zu verdanken, dass Frauengeschichte in der Schweiz heute sichtbarer ist. Dank der wachsenden öffentlichen Anerkennung und dem erhöhten Stellenwert der Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den frühen 2000er-Jahren konnte eine funktionierende Infrastruktur aufgebaut werden. Ein Beispiel dafür sind spezialisierte Archive, die für die geschlechterfokussierte Forschung zentral sind und die vermehrt von öffentlichen Geldern mitgetragen werden. Der Fall des Gosteli-Archivs zeigt aber auch, dass solche überlebensnotwendige Finanzierungen nicht selbstverständlich sind und weiterhin erkämpft werden müssen. Eine Diskussionsteilnehmerin konstatierte ebenfalls aus eigener Erfahrung, dass die Inklusion von Frauenthemen oder Geschlechterfragen in Projektplanungen oder Gremien oft als sekundär angesehen wird und die Ressourcen und Gelder für deren Erforschung nur zur Verfügung gestellt werden, wenn sich jemand explizit dafür einsetzt.

Vom Hörsaal ins Klassenzimmer

Trotz der wichtigen Veränderungen, die engagierte Historiker*innen in den letzten fünfzig Jahren vorangetrieben haben, bleiben grosse Defizite. Wir sind in der Schweiz weit davon entfernt, dass – wie infolge des feministischen Streiks 2019 in einem Debattenbeitrag in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte gefordert – «an jedem Institut zu den Geschlechterverhältnissen als einem der zentralen Strukturprinzipien heutiger wie vergangener Gesellschaften geforscht und gelehrt» wird (Seiten 430f.). Zwei Umfrage-Teilnehmerinnen, die in den letzten zehn Jahren ihr Geschichtsstudium abgeschlossen haben, berichteten, dass in ihrem Studium kaum feministische oder geschlechtergeschichtliche Perspektiven vermittelt wurden. Oft hängt es von der persönlichen Einstellung der Dozierenden ab, ob ein solcher Fokus gesetzt wird oder nicht. Dies ist ein Zeichen der mangelnden institutionellen Verankerung von Geschlechterperspektiven im Geschichtsstudium an Schweizer Universitäten.

«Es gibt viele ‹private› Initiativen die sich für die Sichtbarkeit von Frauen- und Geschlechtergeschichte stark machen. […] Doch die Geschlechtergeschichte ist an den Unis immernoch viel zu wenig institutionalisiert. Sie sind stark von den Personen in Machtpositionen abhängig. Wechselt eine Professur oder werden Professorinnen emeritiert, […] muss gleich wieder um den Fokus Geschlechtergeschichte gebangt werden.» w, Abschluss 2018, Studentin und Leitungsposition in der Geschichtsvermittlung

«Während meines Studiums gab es kaum feministische Perspektiven auf die vermittelten Themengebiete, geschweige dann Quellen, die von Frauen geprägt wurden.» w, Abschluss 2012, wissenschaftliche Mitarbeiterin

«Was ich sehr wichtig fände, ist, dass für jegliche Seminare und Veranstaltungen vorgeschrieben wird, dass ein Minimum von einem Viertel von Historikerinnen verfasste Texte aufgelistet werden. Das heisst natürlich nicht, dass Frauen automatisch über Frauen schreiben, aber irgendwie wird dadurch die Frau in der Geschichtswissenschaft trotzdem sichtbarer.» w, Abschluss 2022, Praktikantin Museum

Noch öfter wurde in der Umfrage und den Diskussionsrunden der Mangel an Frauen- und Geschlechterthemen im schulischen Geschichtsunterricht und der breiteren Geschichtsvermittlung erwähnt. Auch die 2022 erschienene Ausgabe der geschichtsdidaktischen Zeitschrift Didactica Historica reflektiert, dass die Kategorie Geschlecht als transversale Dimension der Geschichte in Lehrmitteln sowie in der Unterrichtspraxis von Lehrpersonen sehr unterschiedlich gewichtet wird.

«[Frauen- und Geschlechtergeschichte ist] in Schulmaterialien auf allen Stufen immer noch nicht vorhanden.» w, Abschluss 1998, Dozentin

«Die Geschichtsschreibung widmet sich Frauen- und Geschlechterfragen heute ausreichend. In der Geschichtsvermittlung werden aber immer noch viel mehr Männergeschichten erzählt (Objekte, Lehrmittel, Vorträge).» w, Abschluss 2013, Kuratorin

«Nachholbedarf besteht m.E. nach wie vor im Bereich von Publikationen und in der Vermittlung.» m, Abschluss 1983, selbständiger Historiker und Publizist

Graubünden und Fraubünden: Gender und Frauen als Separatthema

Wie von einigen Umfrageteilnehmer*innen beobachtet wurde, können geschichtliche Standardwerke in der Schweiz heute die Themen «Frauen» oder «Geschlecht» nur schwer komplett ignorieren. Jedoch bleiben diese oft «Separatthemen», die in einem eigenen (Unter-)Kapitel besprochen werden. Dieses Phänomen wurde sowohl in der Umfrage als auch in unseren Diskussionsrunden als grosses Defizit thematisiert.

«Frauen- und Geschlechtergeschichte wird noch viel zu oft als ein Spezial-Thema gesehen, dem man sich einmal widmet und das man dann abgehakt hat.» w, Doktorandin

«Je pense qu’il ne faut pas séparer le chapitre ‹femme› comme on le voit parfois dans des livres, des encadrés etc. L’histoire globale doit être faite et vulgarisée en intégrant le genre partout, tout le temps.» w, Promotion 2019, Postdoc

«Mein Gefühl ist, dass sich Genderfragen immer noch separat behandeln lassen. Solche Fragen sollten im Kontext jeder Forschungsfrage inkludiert sein.» w, Abschluss 1995, Journalistin und Autorin

Paradigmatisch dafür wurde in einer unserer Diskussionsrunden das Forschungsprojekt «Fraubünden» erwähnt, aus dem in den 2000er-Jahren vier Publikationen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des Kantons Graubünden hervorgingen. Dass so ein Projekt überhaupt finanziert und realisiert werden konnte, ist eine wichtige Errungenschaft. Dass die Geschichte der Frauen im Graubünden auf eine separate Bücherreihe «ausgelagert» werden musste, statt in die Standardwerke zur Kantonsgeschichte aufgenommen zu werden, deutet für eine Diskussionsteilnehmerin hingegen darauf hin, dass Geschlechterverhältnisse, Frauen und «Frauenthemen» in der Geschichte nicht als gleichwertiger Teil der «allgemeinen Geschichte» verstanden werden.

«Vielen ist nicht klar, dass Geschlechtergeschichte die unterschiedlichsten Bereiche der Geschichte interessanter und erklärbarer macht und dass Frauen ohnehin kein Spezial-Thema sind, sondern genauso geschichtsträchtig wie Männer und andere Geschlechter.» w, Doktorandin

Die Geschlechtergeschichte kann ihr Potential als Methode zur Untersuchung von Machtverhältnissen und marginalisierten Sichtweisen nur voll ausschöpfen, wenn Geschlecht in der historischen Forschung und Vermittlung nicht als separate, sondern als interdependente Kategorie erfasst wird. Darauf wurde in unserer Umfrage und unseren Diskussionsrunden mehrfach hingewiesen.

«Le genre devrait devenir une question systématique et transversale.» w, Promotion 2021, Historikerin an der Uni

«La question est de savoir à quel point à force d’être visible, les questions de genre seront un jour des questions simplement incontournables au sein de toutes les recherches et ne seront plus l’objet d’un chapitre à part ou d’une perspective qui se veut militante.» w, Abschluss 2015, Doktorandin

Dauerbrenner-Thema Frauenarbeit

Wir haben in unserer Umfrage auch gefragt, welche geschlechter- und frauengeschichtlichen Themen und Ansätze in der «allgemeinen» Schweizer Geschichte stärker berücksichtigt werden sollten (siehe Grafik 2).

Grafik 2. Bedarf nach frauen- und geschlechtergeschichtlichen Schwerpunkten in Teilgebieten der Schweizer Geschichte. Antworten zu unserer Umfrage in Prozent von gesamthaft 52 Umfrageteilnehmenden (mehrere Antworten waren möglich).

Die zweitmeisten Stimmen erhielt die weiter oben angesprochene Idee eines transversalen Verständnisses der Geschlechtergeschichte, also dass Weiblichkeiten und Männlichkeiten als massgebende Kategorien innerhalb von etablierten Geschichtstraditionen wie etwa Wirtschafts- oder Politikgeschichte untersucht werden sollten. Mit Abstand am öftesten gaben unsere Umfrageteilnehmer*innen an, dass die Arbeit von Frauen in der Schweizer Geschichtsschreibung mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte.

Dies ist mitunter deshalb bemerkenswert, weil Arbeit eines der ersten Schwerpunktthemen in der Schweizer (und generell der deutschsprachigen) Frauen- und Geschlechtergeschichte war. Die erste schweizerische Historikerinnentagung fand 1983 statt und brachte Historiker*innen aus dem ganzen Land zusammen, die sich in ihrer Forschung mit historischen Fragestellungen zu Frauen und/oder Geschlecht befassten. Das Thema dieser ersten Konferenz war die «Geschichte weiblicher Arbeits- und Lebensbedingungen in der Schweiz». Der erste Basler Frauenstadtrundgang 1990 widmete sich der Geschichte der Arbeit von Basler Frauen vom Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert.

Dass dieses Thema auch heute noch eine solche Aktualität hat, hängt vielleicht damit zusammen, dass (bezahlte wie unbezahlte) Care-Arbeit in den vergangenen Jahren – im Zuge der feministischen Streiks von 2019 und 2020 sowie durch die Pandemie – als genderpolitische Frage einen Boom erlebt hat. Dies weckt Interesse an historischen Fragestellungen, die sich dieser Thematik unter einem feministischen, geschlechtergeschichtlichen Blickwinkel annehmen.

Schweizer Geschlechtergeschichte jenseits von Normen und Binarität

Die drei letzten Themenblöcke – Intersektionalität/Vielfalt, Globalgeschichte, Migration – repräsentieren verhältnismässig neue Ansätze in der Frauen- und Geschlechtergeschichte der Schweiz. Analog zu den Umfrageergebnissen waren diese Themen auch seltener Gegenstand unserer virtuellen Diskussionsrunden. Sie sind aber trotzdem wichtig, gerade wenn sich die Forschung über die mittlerweile bekannteren «Pionierinnen» in der Schweizer Geschichte hinausbewegen und eine grössere Vielfalt an Frauengeschichten einfangen möchte.

«Ich wünsche mir eine Öffentlichkeit für die Arbeiterinnen, für migrantische Frauen und die Beziehungen von Frauen untereinander und über die Gesellschaftsschichten hinweg. Ich wünsche mir eine Öffentlichkeit für die unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen. Und ich wünsche mir Sichtbarkeit für ihre Kämpfe, ihre Gefühle, ihr Begehren, ihre Widerständigkeit, ihr unsichtbares Handeln. Und ich wünsche mir mehr Geld für die Erforschung queerer Lebensweisen.» w, Abschluss 2018, Studentin und Leitungsposition in der Geschichtsvermittlung

Solange eine geschlechtersensitive Schweizer Geschichte sich davor verschliesst, auch den Einfluss von Migration und die Verflechtungen mit ausserschweizerischen sowie aussereuropäischen Entwicklungen zu untersuchen, bleibt Geschlecht isoliert von anderen Kategorien, mit denen es erwiesenermassen in einem steten Abhängigkeitsverhältnis steht. Ein Grossteil der geschlechtergeschichtlichen Forschung basiert zum Beispiel auf der Annahme einer bürgerlichen, weissen Gesellschaftsordnung als Norm der Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Migrantische Frauen, Frauen aus tieferen Gesellschaftsschichten, oder trans- und nicht-heterosexuelle Frauen fallen oft aus dem historischen Blickfeld heraus – und mit ihnen die alternativen Familien-, Beziehungs- und Geschlechtermodelle, an denen sie sich vielleicht orientierten.

Die Erforschung «queerer Lebensweisen», wie sie eine Umfrageteilnehmerin genannt hat, verlangt darüber hinaus nach einer Geschlechtergeschichte, die sich jenseits einer binären Auffassung von Geschlecht – also Mann oder Frau – bewegt. Da Herrschaftsformen in der Vergangenheit sehr stark auf einer binären Geschlechterordnung aufbauten, fällt es gerade Historiker*innen immer noch nicht leicht, diese gleichzeitig zu identifizieren und zu dekonstruieren.

«Die Geschichte von Geschlechtern jenseits des binären Spektrums ist noch zu wenig präsent im öffentlichen, aber auch akademischen Diskurs.» w, Doktorandin

Ein kürzlich erschienener Forschungsbericht von Mirjam Janett zur Geschichte der Intergeschlechtlichkeit zeigt vielversprechend auf, welch vielfältige Forschungsperspektiven ein breiter gefasstes Geschlechterverständnis in den Geschichtswissenschaften eröffnen kann. Solche Interventionen und viele der anderen Entwicklungen und Errungenschaften, die wir in diesem Beitrag beschrieben haben, sorgen dafür, dass die Frauen- und/oder Geschlechtergeschichte in der Schweiz sich weiter wandeln und bewegen. In diesem Prozess werden sie ihre Erkenntnisse und Fragestellungen hoffentlich sowohl in bisher «geschlechterblinde» Forschungsfelder tragen als auch vermehrt bei öffentlichen Geschichtsdebatten, im Unterricht und in der Vermittlung als grundlegende Perspektive mitgedacht werden.



[1] Wir vom Historikerinnennetzwerk interessieren uns für die Anliegen von Historiker*innen, die aufgrund ihres sozialen Geschlechtes strukturelle Benachteiligungen erleben. Da sich die in unserer Umfrage, in den Diskussionsrunden, sowie auch in offiziellen Statistiken besprochenen Probleme fast ausschliesslich auf als weiblich identifizierte Personen beziehen, sprechen wir in diesem Text von «Frauen» oder «Historikerinnen». Grundsätzlich verstehen wir Geschlecht als vielfältig und fluid und meinen mit «Historiker*innen» alle in den Geschichtswissenschaften arbeitenden Personen, egal ob sie sich als (cis-/trans-)weiblich, (cis-/trans-)männlich, nicht-binär, intersexuell oder genderqueer identifizieren.

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